Sie zählen zu den markantesten Blickfängen auf Sylt und prägen die Landschaft – die uthlandfriesischen Häuser oder „Reetdachhäuser“. Die mit Reet bedeckten Behausungen der Friesen haben dem Vormarsch von weitaus weniger gemütlich anmutenden Hartdächern widerstanden. Diese beugen seit dem Mittelalter vor allem Brandgefahr in Städten und dicht besiedelten Ortschaften vor. Noch heute finden sich auf Sylt allerdings zahlreiche Friesenhäuser, deren Dächer mit weichem und einladendem Reet bedeckt sind. Doch was ist das eigentlich – dieses Reet?

Weichbedachung aus Wasserpflanzen

Jeder von uns kennt diese länglichen Halme mit den weichen Blüten, die am Rand von Gewässern bis zu mehreren Metern emporragen. An Sumpfgebieten, Flüssen, sogar Seen und dem Teich im eigenen Garten finden wir es: Schilf. Bereits seit sich Menschen an einen Ort binden und Häuser errichten, wird diese vielseitige Wasserpflanze aufgrund ihrer weitverbreiteten Verfügbarkeit an Ufern als Material verwendet. Vor allem, um Behausungen zu überdachen und vor Wind und Wetter zu schützen – auch auf Sylt.

Während feste Schilfrohrplatten zum Dachdecken genutzt werden, eignen sich dünner gebundene Schilfrohrmatten beispielsweise zum Lichtschutz. Das ist aber nicht alles: Auch als Brennstoff diente Schilf in vergangenen Zeiten, genauso wie als Nahrungsmittel, dank seiner im Frühjahr blühenden Sprossen und seiner Wurzeln. Letztere dienten etwa als Ersatz für Mehl und wurden somit zum Kochen und Backen genutzt.

Friesenhaus Keitum Sylt
Friesenhaus Keitum Sylt

Schöner Wohnen mit Reetdach

Beliebt sind Reetdachhäuser auf Sylt auch heute noch – in einigen Orten ist die Weichbedachung mit Reet sogar in Satzungen vorgeschrieben. Betondachstein, Faserzement, Metalldach und Co. sind über den Köpfen der friesischen Inselbewohner also weniger zu entdecken. Reetdächer sind nicht nur wegen ihres organischen und naturhaften Anblicks, welcher diese in Einklang mit der Landschaft bringt, ideal zur Abdeckung von Häusern.

Reet eignet sich vor allem dank der hervorragenden Isolationsfähigkeit als Material für Dächer. Gebaut werden diese heute überwiegend in Form von Kaltdächern mit einer zusätzlichen Belüftungsschicht zum Temperaturausgleich: Während die Friesenhäuser im Sommer gut gekühlt bleiben und von dem Wärmeschutz des Schilfs profitieren, hält das Dach im Winter kostbare Wärme in den eigenen vier Wänden.

Kulturell bedeutsames Handwerk

Im Schnitt werden Reetdächer 30 bis 50 Jahre alt, abhängig von Konstruktion und Form, Qualität, Belüftung sowie Pflege und Wartung. Es wurden allerdings bereits Reetdächer dokumentiert, welche gar ein stolzes Jahrhundert alt wurden. Weil die Konstruktion eines Reetdaches also entsprechendes Können voraussetzt, gilt das Handwerk der Reetdachdecker seit 2014 als Kulturform und wurde deshalb in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Die Verarbeitung eines Reetdaches erfolgt auf eine von drei Arten: Das Reet wird wahlweise als gebundenes, geschraubtes oder als genähtes Dach angefertigt. Bei einem gebundenen Reetdach werden die gebündelten Reethalme vom Handwerker auf Dachlatten aufgelegt und mit Bindedraht festgezogen – anschließend werden die Bindedrähte der verschiedenen Latten festgezogen und verknotet.

Bei einem geschraubten Dach spart sich der Reetdachdecker den Bindedraht und schraubt die Bündel an den Dachlatten fest. Um die Schrauben wird dabei aber ein Draht gelegt, der ebenfalls über die Dachplatten gespannt und dann festgeschraubt wird, um diese zu halten. Am aufwendigsten ist das Vernähen des Reetdaches ohne diese Haltedrähte: Das Reet wird um die Koppelträger herumgenäht. Wo früher ein „Gegennäher“ im Inneren des Hauses notwendig war, kommen heute spezielle Haken zum Einsatz.

Schlafen unter weichem Dach

Nicht nur das fertige Bauwerk, auch die Herstellung eines Reetdachhauses ist also ein Anblick, der die friesische Lebensart vergangener Zeiten offenbart. Uthlandfriesische Häuser altertümlicher Bauart dürfen sich Urlauber also keinesfalls entgehen lassen. Nahezu alle der bis heute erhaltenen Friesenhäuser stehen deshalb unter Denkmalschutz.

Im Inneren, aber auch an der Fassade der meisten Reetdachhäuser Sylts wurden allerdings viele Modernisierungen vorgenommen. Als eines von wenigen Häusern ist das 1737 erbaute „Altfriesische Haus“ in Keitum, das bereits seit mehr als einhundert Jahren als Museum betrieben wird, jedoch noch in ursprünglicher Form erhalten.

Auch das berühmte Kapitänshaus in Westerland ist noch original belassen und mit davor aufgestellten Kieferknochen eines Wales ein echter Hingucker. Viele andere Friesenhäuser wurden hingegen zu Wohn- und Appartementhäusern umgewandelt und laden Besucher damit zum Übernachten ein.