Die ganze Insel zu Fuß umrunden, also 100 Kilometer in 24 Stunden zurücklegen – das war das große Ziel für alle, die vergangenen Samstag am Megamarsch Spezial auf Sylt teilgenommen haben. Ich war als Praktikantin des Insel Sylt Tourismus-Service (ISTS) mitten unter den Laufverrückten und dachte mir, so schwer kann das doch nicht sein.

So zumindest die Theorie, als ich mich zwei Wochen vorher spontan mit einem Freund angemeldet habe. Zwei Trainingsmärsche über je 20 Kilometer und ein bisschen mentale Vorbereitung später, standen Jan und ich am Samstag pünktlich um zwölf Uhr an der Startlinie in Westerland vor der Musikmuschel. Bei allen 551 Teilnehmer*innen war die Stimmung beim Start ausgelassen und voller Vorfreude, auch weil die Wetterbedingungen (anders, als bei den vergangenen Veranstaltungen) perfekt waren. Gemeinsam mit einigen Kollegen und Kolleginnen aus dem Büro haben wir uns also auf den Weg nach List gemacht. Die ersten Strandabschnitte waren fröhlich quatschend schnell geschafft und auch den ersten kleinen Regenguss haben wir trocken überstanden. Auf den letzten Kilometern vor der ersten Verpflegungsstation (VPS) hatte sich unsere kleine Gruppe allerdings schon aufgelöst und wir waren nur noch zu zweit unterwegs.

Nach einem kurzen Stopp in der Kurverwaltung List, ging es schnell weiter Richtung Süden. 23 Kilometer hatten wir jetzt schon geschafft und waren hochmotiviert für die restlichen drei Viertel der Strecke. Das erste Highlight kam schon weniger als einen Kilometer nach der VPS, denn Anwohner hatten Tee, Schokolade, Kekse und Jägermeister an die Straße gestellt – eine tolle Aktion, bei der man gerne nochmal zugegriffen hat. Selbst der Regen konnte uns im Anschluss die gute Laune nicht verderben. In Kampen konnten wir endlich von der Landstraße abbiegen und es gab wieder abwechslungsreichere Wege durch die Braderuper Heide. Allerdings setzte zu diesem Zeitpunkt auch schon die Dämmerung ein, sodass wir unsere Stirnlampen auspacken mussten, um nicht im Matsch auszurutschen. Beim Blick über die Schulter gab es jetzt nur noch unzählige wandernde Lichtpunkte, statt bunter Regenkleidung zu sehen. Die letzten Kilometer immer am Watt entlang bis nach Keitum zogen sich ewig in die Länge und waren der Auslöser für mein erstes kleines Motivationstief (da sollten noch viel schlimmere kommen). Die nächste VPS im Pastorat war also für mich schon längst überfällig. Hier wurden neben uns bereits die ersten „Not-OPs“ durchgeführt, sprich Blasen aufstechen und verarzten oder verdrehte Knie mit Schmerzgel betäuben. Nach 42 Kilometern und acht Stunden auf den Beinen hatten wir glücklicherweise noch keine Probleme, die nicht mit Kartoffelsalat und einer kurzen Pause gelöst werden konnten. Ganz anders sah es da bei unseren anderen Mitstreiter*innen vom ISTS aus: Einer hatte nach mehreren Schmerztabletten kurz hinter List aufgehört, meine Kollegin Michaela hatte sich mit schmerzhaften Blasen unter den Füßen ihre 40-km-Urkunde in Keitum abgeholt und den dritten im Bunde, Christian, nahmen wir kurzerhand ohne lange Pause für den Weg nach Morsum in unsere Mitte.

Der liebevoll gestaltete VPS 1,5 mit Nervennahrung.
Wir trotzten dem Regen. © sportograf.com

Kurz hinter der VPS in Keitum hätten wir uns fast noch verlaufen, wenn Stella (eine andere Freundin, die bisher alleine unterwegs war) uns nicht zurückgepfiffen hätte. Zu viert stiefelten wir also bei nicht mehr ganz so euphorischer Stimmung durch die Nacht, vorbei an Salzwiesen und dem Morsum Kliff. Bei Tageslicht eine wunderschöne Strecke, wir konnten es leider nicht wirklich genießen. Die Dunkelheit und Magenprobleme schlugen bei mir ziemlich auf die Stimmung. Anscheinend hatte ich an den VPS zu viel und vor allem total durcheinander gegessen. Bei Kilometer 45 war ich also das erste Mal kurz davor abzubrechen. Mit vereinten Kräften schafften wir es noch einige Kilometer weiter, als bei Christian plötzlich gar nichts mehr ging. Seine Beine und Hüfte waren total fest und er musste sich hinsetzen. Er schickte uns alleine weiter, denn 24 Stunden sind auch nicht unendlich und die Zeit saß uns schon im Nacken. Schweren Herzens ließen wir ihn in der Dunkelheit zurück und erfuhren später, dass er die Bank nur noch für den Heimweg verlassen hat und abbrechen musste. Am Kilometerschild 50 kamen wir also nur noch zu dritt an und brachten die letzten Meter zur VPS 3 hinter uns. Nach mehr als 51 Kilometern und 11 Stunden wollte ich nichts mehr essen, nur noch sitzen und meine Beine entlasten. Mit kleinen Schlucken Wasser und einem Becher Tee bekam ich meine Bauchschmerzen einigermaßen in den Griff und ein paar salzige Erdnüsse später fühlte ich mich einigermaßen gewappnet für die nächste lange Etappe nach Rantum. Wie schlimm es wirklich werden würde, hätte keiner von uns gedacht.

Unterwegs in den Wiesen bewunderten wir noch den schönen Sternenhimmel (inzwischen hatte es wieder aufgeklart) und vertrieben uns die Langeweile mit Kinderspielen. Als wir allerdings den Nössedeich erreichten, war ich angesichts der nach links schräg abfallenden Teerstraße völlig fassungslos. „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, dachte ich mir. Sollten zu den schmerzenden Füßen nun auch noch Knie- und Knöchelprobleme dazukommen? Aber es half alles nichts. Wir liefen und liefen endlos weit, bis ich irgendwann einen Blick auf die Karte riskierte, den ich besser gelassen hätte. Wir hatten gerade mal die Hälfte der Strecke bis zum Rantumbecken geschafft! Zum Glück war es so dunkel, dass man eh keine Entfernungen schätzen oder das Ziel sehen konnte. Als Stella, die mit (anscheinend) guter Musik bisher hochmotiviert unsere kleine Gruppe angeführt hatte, plötzlich stehen blieb und sich ohne Vorwarnung auf den kalten und nassen Boden setzte, gingen bei uns alle Alarmglocken an. Ihr Kreislauf war völlig abgesackt, ihr war übel und kalt. Wahrscheinlich hatte sie einfach zu wenig gegessen. Wir versuchten, ihr so gut wie möglich zu helfen, aber viel konnten wir nicht tun. Glücklicherweise waren die anderen Teilnehmer  super hilfsbereit und hatten pflanzliche Kreislauftropfen in petto. So konnten wir nach einer Pause und einer kleinen Stärkung tatsächlich alle weiterlaufen. Am nächsten Rettungswagen (die waren überall positioniert) klärten wir das Ganze noch kurz mit den Sanitätern ab und wagten uns dann auf den Deich des Rantumbeckens. Durch das freigesetzte Adrenalin von Stellas Zusammenbruch spürte ich meine Schmerzen nicht mehr und führte jetzt unsere Gruppe an. Glücklicherweise hielt sich der Wind dieses Jahr in Grenzen und wir kamen gegen 3:45 Uhr an der VPS 4 im Kursaal Rantum an. Mit inzwischen 70 Kilometern in den Beinen entschieden wir uns ausnahmsweise für den Aufzug, der uns in den ersten Stock brachte.

Meine Füße fühlten sich mittlerweile an, als würden die Fußsohlen abfallen und ich traute mich, meine Schuhe einmal auszuziehen und die Beine hochzulegen. Alles, was mir jetzt noch helfen konnte, war Cola. Zwischendurch lag ich sogar einmal kurz auf dem Boden, um meine Hüfte zu dehnen. Denn ganz ehrlich, inzwischen tat mir alles weh: von den Füßen über die Waden, die Hüfte und den Rücken bis zu den Schultern und dem Nacken. Vom stundenlangen Tragen der Stirnlampe hatte ich auch noch Kopfschmerzen bekommen. Von Spaß haben, konnte ab diesem Punkt wirklich keine Rede mehr sein. Nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte und wir uns eine Notfallflasche Cola für den Weg eingepackt hatten, ging es auf die lange Gerade nach Hörnum. Wer die Insel kennt, weiß, wie entmutigend die Strecke ist. Richtig fies war, dass man an der Straße die anderen Teilnehmer*innen erahnen konnte, die schon auf dem Rückweg nach Westerland waren. Entsprechend schlecht war auch unsere Stimmung und jeder spielte zwischendurch mal mit dem Gedanken auszusteigen. Endlich in Hörnum angekommen, mussten wir dann noch den Golfplatz umrunden. Die abwechslungsreiche mit Höhenmetern gespickte Strecke spendete mir noch einmal Motivation, denn sie bot Ablenkung von den eigenen Schmerzen. Jan hingegen gaben die zahlreichen Treppenstufen mit seinen Knieproblemen den Rest. Die letzten Meter bis zur fünften VPS bei Kilometer 82 waren noch einmal die Hölle. Es ist eben doch hauptsächlich eine mentale Sache und wenn der Kopf schon mit der Etappe abgeschlossen hat, macht der Körper einfach nicht mehr mit. Um 7 Uhr schleppten wir uns mit letzter Kraft die Treppe in den ersten Stock hoch, nur um dann festzustellen, dass alle Stühle belegt waren. Also musste der Boden herhalten, trotz der Gefahr, nie wieder aufstehen zu können. Die Zeit, die der Körper zur Erholung braucht, wurde immer länger, während die Zeitspanne, in der man sich erholt fühlte, immer kürzer wurde. Nach 20 Stunden sank das Schmerzlevel also fast gar nicht mehr und es war ein einziger Kampf gegen sich selbst. Ein Schokobrötchen und etwas Cola später, kamen wir aber wieder in die Gänge und schlichen los in Richtung Westerland. Jetzt wollte keiner mehr aufgeben, denn wir hatten das Ziel ja schon vor Augen!

Als unterwegs die Sonne aufging, konnten wir wenigstens unsere Stirnlampen im Rucksack verstauen. Dass wir nach 12 Stunden Dunkelheit endlich die Nacht überstanden hatten, gab uns nochmal einen großen Motivationsschub. Andererseits konnten wir jetzt auch wieder sehen, was noch vor uns lag. Der Fußweg neben der Landstraße wollte einfach kein Ende nehmen. Inzwischen begegneten uns auch wieder „Zivilisten“, die uns teils mitleidig, teils verständnislos anschauten oder uns mit dem Fahrrad rabiat aus dem Weg klingelten. In jedem Bushaltestellenhäuschen saßen oder lagen Teilnehmer*innen, die eine Pause einlegen oder Verletzungen versorgen mussten und es erforderte pure Willenskraft nicht in den mit offenen Türen wartenden Bus einzusteigen. Unterhalten konnten und wollten wir uns auch nicht mehr, jeder hörte einen Podcast oder Musik, um sich irgendwie abzulenken.

Der Sonnenaufgang zu Beginn der letzten Etappe.
Ab hier wollte ich einfach nur für mich sein und alles andere ausblenden.

In Rantum zweigte der Weg dann endlich in den Wald ab und ich konnte meine verbleibende Motivation zusammenkratzen. Mit Unterstützung von Familie und Freunden, teils vor Ort, teils am Telefon, schafften wir auch die finalen Kilometer nach Westerland. Selbst die Himmelsleiter konnte uns nicht mehr aufhalten und als die Musikmuschel nach 23,5 endlosen Stunden in Sichtweite war, konnten wir unser Glück kaum fassen. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, Familie, Freunde und sogar Michaela und Christian begleiteten uns auf den letzten Metern ins Ziel und jubelten uns zu. Mit der Medaille in der Hand konnte ich meine Gefühlsachterbahn der vergangenen Stunden nicht mehr zurückhalten und brach in Tränen aus. Überglücklich und dankbar für alle, die uns unterwegs motiviert und unterstützt hatten, saßen wir noch gemeinsam am Zieleinlauf und mussten das alles erstmal verarbeiten.

Nur noch ein Kilometer bis zum Ziel! (v.l.n.r.: ich, Stella und Jan)

Insgesamt hatten 388 Teilnehmer*innen die Ziellinie überquert, die ersten gegen 4 Uhr morgens, die letzten um 13 Uhr. Es ist ein überwältigendes Gefühl, Teil von so etwas gewesen zu sein. Ohne meine Wanderpartner Stella und Jan hätte ich aber sicherlich nicht durchgehalten, wir haben uns alle super ergänzt. Mit ein bisschen Abstand und genügend Zeit zur Regeneration kann ich definitiv sagen, dass der nächste Megamarsch schon auf mich wartet. Vielleicht nicht auf Sylt und sicherlich mit ein bisschen mehr Vorbereitung, aber für mich hat es gerade erst angefangen!